Auch wenn der Tag des Heiligen Stephanus bereits am 26. Dezember gefeiert wurde: Es gibt viele Gelegenheiten, sich von ihm inspirieren zu lassen. Es lohnt sich. Auch im Krefelder Hauptbahnhof und an allen Tagen des Jahres.
Wie großzügig bin ich? Wie nachtragend? Und was macht das mit mir?
Einmal habe ich es schon geschafft. Ein einziges Mal. Wobei die Situation auch nicht ganz vergleichbar war. Also gar nicht vergleichbar. Eher lächerlich im Vergleich zu dem, was Stephanus geleistet hat. Er ist der erste Märtyrer in der Nachfolge Christi, der noch bei seiner Steinigung seinen Mördern verziehen hat: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ waren seine letzten Worte.
Ein belangloses Gespräch unter Kolleginnen – über Heilige
Bemerkenswert an Rande vielleicht, dass es eine muslimische Kollegin und Freundin war, die mich kurz zuvor an ihn denken ließ: „Wir sind manchmal so nachtragend“, sagte sie. „Dabei ist es lächerlich, worüber wir uns aufregen. Wenn wir uns erinnern, was unsere Propheten und Heiligen alles ausgehalten haben.“
Anstoß: Hilfssheriff im Krefeld Hauptbahnhof
Ein paar Tage später fuhr ich mit meinem Rädchen rüber zum Bahnhof, ich wollte den Zug nach Uerdingen nehmen, wo ich ein paar Besorgungen zu machen hatte. Ich stieg auch im Bahnhofsgebäude nicht ab, denn ich liebe es, über den glatten Steinboden zu fahren. Ein Schwall von Reisenden bremste mich, Menschen die aus einem Zug die Treppen herunter zum Vorplatz strömten. Ich hielt an, balancierte auf der Stelle stehend, um sie nicht zu gefährden. Eine entgegenkommende Frau sah das anders: „Sie wissen ganz genau, dass das verboten ist“, wetterte sie. „Okay“, seufzte ich innerlich, „die Deutschen sind ein Volk von Hilfssheriffs“. Innerlich hielt ich weiterhin die Balance und ließ sie unkommentiert ziehen. Als ich endlich auf den Anzeiger am Bahnsteig schauen konnte, sah ich, dass mein Zug ausfallen würde.
Also schnell Kehrt machen und zur Straßenbahn, natürlich radelnd, schließlich hatte ich es jetzt eilig. In der Tür des Bahnhofs sah ich wieder die Frau, die so wenig Verständnis gezeigt hatte für meinen Fahrspaß.
Ich stürze – war der Hilfssheriff vielleicht eine Hexe?
Ich entschied mich für eine andere Tür. Dafür musste ich abbiegen, legte mich in die Kurve und – lag da. War auf dem wunderbar glatten Steinboden ausgeglitten. Seltsamerweise hatte auch die Frau ihre Richtung gewechselt, sie ging an mir vorüber, und höhnisch schallte es durch den ganzen Bahnhof: „Ja, das freut mich ja jetzt richtig, denn das darf man ja nicht.“ Also da hätte ich jetzt doch gern etwas entgegnet, denn das ging eindeutig über die Kompetenzen eines Hilfssheriffs hinaus. Ich ordnete sie schon in die Kategorie Hexe ein.
Plötzlich und unerwartet – die Worte des Heiligen durchzucken mein Hirn
Aber mir fiel im besten Willen kein Konter ein. Das Einzige, was mein Hirn durchzuckte war: „Herr, rechne ihr diese Sünde nicht an!“ denn jemandem eine Verletzung zu gönnen, ja, das halte ich für eine Sünde.
Es gibt sehr viele hilfsbereite Menschen
Im gleichen Augenblick war ein junges Paar an meiner Seite, sie fragten, ob ich mich verletzt hätte und ob sie mir helfen könnten. Also das naheliegendste. Dann schüttelten auch sie die Köpfe über die Bemerkung der Frau. Ich berappelte mich derweil, fühlte, dass noch alles dran war und bedankte mich. Ich erreichte sogar noch die Straßenbahn und bekam einen Sitzplatz direkt neben dem Abstellplatz für mein Rädchen.
Die wunderbare Wirkung guter Gedanken
Schnell komme ich runter
Mein Puls beruhigte sich allmählich. Dann bemerkte ich den Frieden in meinem Herzen. Seltsamerweise hegte ich keinen Groll mehr gegen die Frau. Wo es mir doch sonst immer fürchterlich stinkt, wenn mir keine effektvolle Antwort einfällt, auf so eine Unverschämtheit, und ich dann schon mal wochenlang darüber nachdenke, was ich ihr hätte nachrufen können. Das nagt dann bisweilen wochenlang an mir, die Gedanken kreisen um die vermeintliche Schmach und ich habe nicht eher Ruhe bis mir ein Konter einfällt – für den es dann Wochen zu spät ist. Diesmal blieb ich friedlich, freute mich, dass ich mich nicht verletzt hatte und war dankbar: für die Hilfsbereitschaft des jungen Paares, für das Beispiel des Heiligen Stephanus und das Gespräch mit der Freundin und Kollegin. Wer hätte das gedacht.
Der Kampf verliert seinen Reiz
Leider kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich seitdem noch einmal so großzügig verziehen habe. Das mag daran liegen, dass mir auf Unverschämtheiten meistens eine Antwort einfällt. Es kann aber auch sein, dass mir Konter nicht mehr so wichtig sind und ich solche Situationen schneller vergesse. Schließlich war der Frieden in meinem Herzen so viel angenehmer als der wochenlange Kampf um eine passende Antwort und mit der Zeit bekommt man Übung.
verständnis für die andere Seite
Ich habe auch noch einmal über die Frau nachgedacht: Sie war einiges jünger als ich, hatte es aber schwer, mit ihrem Koffer, mit ihrem Gewicht, vielleicht war der Aufzug im Bahnhof belegt. Womöglich hatte sie es eilig und gerade mit Mühe und Not die Treppen bewältigt. Und dann kommt da Eine und fährt einfach Fahrrad im Bahnhof, balanciert! Ich kann mir gut vorstellen, dass das auch in mir Aggressionen auslösen könnte – die mit der Radfahrerin eigentlich nichts zu tun haben, sie wäre nur ein Ventil für meinen Frust.
Die Grenze
Ob ich mir allerdings zukünftig solche Fahrten verkneife, das glaube ich nicht. Ihre Lust am Leben wird nicht größer, wenn ich auf meine Lust am Leben und am Radfahren verzichte.